Zu Timm Kunstreich

Hans S. Falck:
Nicht Wohltätigkeit, sondern Gerechtigkeit – Die Membership-Perspektive in der Sozialen Arbeit

 

Das neue Buch von Timm Kunstreich bringt mit der Darstellung der Membership-Perspektive einen theoretischen Beitrag zur Sozialen Arbeit und zur Sozialen Gruppenarbeit in den Diskurs in Deutschland ein, der als das Lebenswerk von Hans S. Falck, einem amerikanischen Sozialarbeitswissenschaftler und -professor, gelten kann. Hans S. Falck stammt gebürtig (*26.01.1923) aus Hamburg und hat aufgrund der Judenverfolgung im Nationalsozialismus
Deutschland 1939 verlassen und in den USA eine neue Heimat gefunden. Er selbst wehrte sich gegen die Bezeichnung ‚Flucht‘, indem er von ‚Austreibung‘ sprach. Nach Deutschland kam er 1945 als Teil der US Amerikanischen Truppen und als Übersetzer in den Entnazifizierungsprozessen zurück. In den Staaten studierte er Soziale Arbeit und forschte und lehrte an mehreren Hochschulen und Universitäten.

Kunstreich beschäftigt sich aber nicht in erster Linie mit diesem persönlichen Hintergrund. Sein Fokus ist die von Falck im Laufe seines Lebens entwickelte Membership-Theorie oder wie er selbst sagt, die Membership-Perspektive. Das Buch gliedert sich nach den Lebensabschnitten Falcks und zeichnet so die Entstehungsgeschichte seiner Theorie nach. Das macht es für die Leserin und den Leser etwas einfacher, die zuweilen sehr philosophische Auseinandersetzung mit dem Thema zu verfolgen. Es  erlaubt aber auch, den Entstehungsprozess in seinem historischen Kontext und vor dem Hintergrund von Falcks Biografie zu betrachten.

Der rote Faden des Buches, wie der Entstehungsgeschichte der Membership-Theorie, ist die „Allverbundenheit des Menschen“. Mit der These, dass nicht etwa das Individuum, sondern die Kleingruppe die „nicht reduzierbare Grundeinheit“ des Sozialen sei, nimmt Falck die besonders in Nordamerika aber ebenso in Europa dominierende Ideologie des Individualismus ins Visier.

Auf der Grundlage der „Verbundenheit als einer Tatsache“ stellt Falck die Frage, warum Menschen anderen Menschen helfen und was dies für den Charakter der Hilfebeziehung bedeutet. Auf einer abstrakten Ebene lässt sich seine Position darin zusammenfassen, dass Personen in der Verbundenheit Teil voneinander werden und deshalb Hilfe für den anderen Hilfe für sich selbst wird. Er unterscheidet die sozialen Codes des FÜR und des MIT.
Entscheidend für die Soziale Arbeit sei daher, dass vieles, was für Klienten getan werden könne, mit ihnen getan werden müsse.

Auf berufspolitischer Ebene nimmt er aktiv an der Gestaltung der Organisationsgeschichte der amerikanischen Sozialarbeiterverbände teil. So ist ein Aspekt die Debatte innerhalb der Berufsorganisationen der Sozialen Arbeit, ob sich Sozialarbeiter*innen nach den Sparten ihrer grundsätzlichen Methoden, Case Work, Community Work und Group Work organisieren sollen, oder besser in einem starken gemeinsamen Verband vertreten sind. Falck vertritt hier, je nach Entwicklung, durchaus unterschiedliche Positionen. Dennoch versucht er, in der Betrachtung der Relation zwischen ‚Gruppe‘ und ‚Individuum‘, die gemeinsamen Grundlagen der professionellen Beziehung der Sozialarbeitenden und ihren Klient*innen herauszuarbeiten.

In dieser Debatte und der parallelen Organisationsgeschichte spielen die materielle Ausstattung des Case-Work und des Groupwork, ihr zahlenmäßiges Verhältnis, aber auch ihre unterschiedliche Entstehungsgeschichte eine wesentliche Rolle. Groupwork hat sich aus sozialen Bewegungen entwickelt und in diesem Sinne von Anfang an einen politischen Kern.

Die Entstehung im Kontext der Settlement House Bewegung hatte Werte wie gegenseitige Hilfe und Basisdemokratie zu festen Bestandteilen des Selbstverständnisses gemacht.
Im Rahmen der Subsumtion des Groupwork unter den ‚generic Approach‘ sollte das Groupwork auf eine Methode „der Gruppenleitung, die zur Organisation und Anleitung von unterschiedlichen Typen von Gruppenaktivitäten befähigt“1 reduziert werden. In diesem Verständnis dient die Gruppe zur Förderung individuellen Wachstums des Einzelnen. Falck unterstützte in Abgrenzung zu diesem Verständnis die Gründung der ‚Association for the Advancement of Social Work with Groups‘ (AASWG), um die professionelle Identität des Groupwork zu stärken.

Die Konzepte des Citizenship, der Partizipation, des Gemeinwesens, der Selbsthilfe, der direkten Demokratie, sowie der sozialreformerische Anspruch und eine Haltung des Einstehens für die Unterdrückten kehrten in das Selbstverständnis zurück. Verbunden damit ist eine grundsätzlich andere Haltung in der Beziehung der Groupworkerin oder  des Groupworkers zur Klientin oder Klienten im Vergleich mit dem Casework. Wenn  Groupworker*innen sich als Teil des Wir der Gruppe ansehen, können sie den Anspruch an die  Souveränität der Gruppenmitglieder (einschließlich seiner eigenen) nur in einem Prozess
gegenseitiger Anerkennung und Aushandlung verwirklichen“2 .

Mit der Beziehung zwischen Sozialarbeiter*innen und Klienten*innen setzt sich Falck auch auf der Ebene der Definition der Hilfe-Prozesse auseinander. Der amerikanische Diskurs war in den 60er/70er Jahren sehr von dem klinischen Verständnis geprägt, das sich aus einer medizinischen Logik ableitete. Das Vorgehen sollte den Phasen Anamnese, Diagnose, Therapie oder Behandlung und Evaluation folgen. Dieses Verständnis stellt Falck grundsätzlich in Frage, was weitreichende Konsequenzen hat. In dem erwähnten Ablauf wird von einer von der Person des Klienten unabhängigen Sicht auf ein Problem ausgegangen, die letztlich nur der Fachkraft möglich ist. Die Kompetenz für die Analyse des Problems steht nur der Fachkraft zu, die auch in der Lage ist,
objektive Diagnosen zu erstellen.Demgegenüber versteht Falck die Klient*innen wie die Sozialarbeiter*innen als Member von Gruppen. Er entwickelt die Auffassung, die den Menschen mit seiner Individualität nur in der Vernetzung mit allen und allem verstehen kann. Damit stellt er sich auf sehr grundsätzliche
Art gegen die Ideologie des Individualismus. Seine Membership-Perspektive ist damit quasi eine ökologische Sichtweise auf Individuen und Gesellschaft, in der alle mit allem verbunden sind. Und dies hat Konsequenzen für das Verständnis der Hilfe-Beziehung. Das Problem lässt sich nicht länger auf ausschließliche Art der Klientin oder dem Klienten zuschreiben. Somit entsteht eine Form der Involviertheit, die uns neu auf die Fragen von professioneller Nähe und Distanz blicken lassen. Die Notwendigkeit von Partizipation ist diesem Konzept immanent. Selbstermächtigung ersetzt das hergebrachte Hilfe-Verständnis.

1 Andrews, Janice (2001) Group Work‘s Place in Social Work: A historical Analysis; in: The Journal of Sociologieand Social Welfare 28 Zitiert nach Timm Kunstreich S. 46

2 Vgl. Kunstreich S. 48 f.

Ich bin versucht, die Anregungen aus der Membership-Theorie mit Erkenntnissen aus der Habitus-Theorie Bourdieus zu verbinden. Identität ist damit nicht verständlich als etwas persönlich erworbenes, sondern als eine sich ständig neu generierende Erzählung über die Einheit eines Individuums in seinen unterschiedlichen Relationen in die Welt. Die als Persönlichkeit oder Identität wahrgenommene Konstanz von Verhalten beschreibt dann die
erworbenen Selbstverständlichkeiten der Kommunikation im bekannten Umfeld. Gleichzeitig beschreibt der Habitus auch eine soziale Zugehörigkeit – ein Membership. Vor diesem Hintergrund verstehe ich die von Falck benutzten Begriffe, der „sichtbaren und der unsichtbaren Gruppen“, wobei die unsichtbaren Gruppen die nicht physisch Anwesenden beschreibt.

Die Beziehung zwischen Sozialarbeiter*in und Klient*in, bzw. zwischen Groupworker*in und Gruppenmitglied, wird auch noch auf einer begrifflichen Ebene reflektiert. Neben dem Begriff der Beziehung als der Bezeichnung des Verhältnisses zu Menschen setzt Kunstreich den Begriff der Relation, der das Verhältnis zu allem in der Welt bezeichnen kann. Er übernimmt ihn aus dem Amerikanischen. Kunstreich fasst Falcks Auffassung der Aufgabe der Sozialarbeit im Unterschied zur psychiatrischen Auffassung mit folgenden Worten zusammen: In Bezug auf die Krise in existenziellen Hier- und Jetzt-Situationen ist zu fragen, was belastet und was ist zur Abhilfe notwendig. Dabei geht es nicht um Heilung, sondern um Entwicklung und Unterstützung. Ohne bei Falck eine explizit systemtheoretische Sprache zu identifizieren, können seine Schlussfolgerungen als hochkompatibel mit dem systemischen Denken verstanden werden. Hans Falck bezieht sich bei seinem Verständnis der Beziehung von Individuum und Gruppe auf die Objekt-Beziehungs-Theorie von Freud und seine Auffassung von Übertragung und Gegenübertragung. Mit Bezug auf das Konzept der Übertragung und Gegenübertragung erklärt Falck seine Idee, dass Individuen in der Beziehung zur Umwelt zum Teil der Umwelt werden. Die Aussage, dass die soziale Grundeinheit nicht das Individuum, sondern die
Kleingruppe (zu der er auch die Familie zählt) ist, indem der Einzelne immer als Teil seiner Gruppen agiert, unterstreicht und ergänzt sich mit dieser Sichtweise. Kunstreich präsentiert mit der Membership-Perspektive Falcks einen nicht in allem neuen Beitrag zum Selbstverständnis der Sozialen Arbeit, weil sie sich problemlos mit der Philosophie z.B. Martin Bubers verbindet, für den ebenfalls das Ich erst im Du, also in der Beziehung, entstehen kann. Aber diese Debatte ist bei weitem nicht abgeschlossen. Der Individualismus ist heute dominanter und virulenter denn je. Selbst in der systemischen Arbeit erlebe ich, wie in der Praxis immer mehr Kolleg*innen, nach dem Motto „ach in Gruppen sind immer so viele Leute“, sich nicht mehr einem sozialen System aussetzen,
sondern lieber Einzelnen mit individualisierten Problemen.

Die Membership-Perspektive ist geeignet in einer Zeit, in der wir in den verschiedensten Krise die Allverbundenheit der Phänomene erleben, eine fundierte ökologische Perspektive in die Soziale Arbeit einzuführen, die sich ganz praktisch in Haltungen und Verhalten von Sozialarbeiter*innen und Groupworker*innen ausdrücken kann.

Klaus-Martin Ellerbrock
18.02.2023

 

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